Was ist Dein Kastentemperament?

Joachim Schneider, 4. Oktober 2012

Der heilige Tukaram, ein Vaishya, demonstriert gegen das Kastensystem. (hindubooks.org)

Sind Sie eine selbstlose Lehrerin oder Führerin, ein unabhängiger Spezialist oder ein Teamplayer?

Gehören Sie in eine gemeinnützige Organisation? Bevorzugen Sie unternehmerische Selbstständigkeit oder einen sicheren, gut bezahlten Arbeitsplatz?

Ihr Kastentemperament ist eine Möglichkeit, diese Fragen näher zu beleuchten.

Kaste

Portugiesische Reisende im 17. Jahrhundert waren die ersten, die ihr Wort „casta“, was wörtlich „rein“  oder „abgetrennt“ bedeutet, verwendeten, um die indische Gesellschaft  jener Zeit zu beschreiben. Heutzutage versteht man unter einer Kaste eine geschlossene Gruppe, in die man hineingeboren wird und die unter anderem eingrenzt, welche Berufe ihre Mitglieder ausüben dürfen. Die menschenverachtende Praktik, jemandem aufgrund seiner Herkunft einen Beruf zuzuweisen, war von den Rishis, den Weisen Indiens allerdings nie beabsichtigt. Das einzig bestimmende Merkmal, ob jemand einen Beruf ergreifen sollte oder nicht,  war das Temperament und nicht die gesellschaftliche Stellung eines Menschen.

Jati oder Varna?

In Indien gibt es zwei verschiedene Worte, die mit dem Begriff „Kaste“  in Verbindung stehen.  „Jati“ bezeichnet das soziale und ethnische Milieu, aus dem ein Mensch stammt. „Varna“ bezieht sich auf die berufliche Mentalität eines Menschen. Ursprünglich durften die Menschen, unabhängig von ihrer Geburtsgruppe, ihrem beruflichen Temperament nachgehen.  Erst im Mittelalter vermischten sich die Jatis mit den Varnas. Somit bestimmte die Geburtskaste auch den Beruf eines Menschen. Insofern diese Praktiken immer noch in Indien gelten, sind sie ein trauriges Zeichen der Barbarei und gedanklichen Verwirrung einer Zeit, dem „Kali Yuga“, in dem die Menschen mit ihren Gefühlen nicht in Berührung waren.

Varnas

Unabhängig von der Herkunft eines Menschen sind die 4 unterschiedlichen beruflichen Temperamente oder Varnas der vedischen Tradition die (1) Brahmanen,  Lehrer und Priester, (2) Kshatryas, Führer und Krieger, (3) Vaishyas,  Geschäftsleute, Landwirte,  Künstler und (4) Sudras,  Angestellte und Arbeiter.

Im Rig Veda, dem Hymnenbuch der Veden, werden die Brahmanen der Mund Gottes, die Kshatriyas die Arme und Schultern, die Vaishyas die Schenkel und die Sudras die Füße Gottes genannt.

Brahmanen  – selbstlose Lehrer

„Brahman“ ist die Erkenntnis, dass alles Gott ist. Wenn Brahmanen meditieren, tun sie dies, um Gott nahe zu sein. Brahmanen sind mitfühlend und gütig. Sie führen ein einfaches Leben und streben nach Weisheit und den höchsten Werten der Menschlichkeit.

“Friede, Harmonie, Enthaltsamkeit, Disziplin, Reinheit, liebende Vergebung, Rechtschaffenheit, Weisheit, Weitblick und Glaube sind die natürlichen Eigenschaften der Brahmanen.“  (Bhagavad Gita 18:42)

Auch wenn ihr Ziel „Moksha“, Befreiung ist, ist nicht jeder Brahmane spirituell. Menschen mit einer Brahmanenmentalität eignen sich als Priester, Lehrer, Wissenschaftler,  Autoren, Philosophen, Dichter oder Berater.

Als Lehrer sind Brahmanen geduldig, handeln im Interesse ihrer Schüler und sind nicht auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Wenn das Brahmanentemperament von Jupiter beeinflusst wird, ist der Mensch ein spiritueller oder Mentalberater, wenn von Venus beeinflusst, ein praktische Berater.

Brahmanen fühlen sich am wohlsten in Schulen, Forschungszentren, Universitäten und  öffentlichen oder gemeinnützigen Einrichtungen, in denen sie sich Ihrem Wissensgebiet widmen können.  Für die freie Wirtschaft sind sie nicht geeignet, wenn sie ihre Berater-oder Lehrfähigkeiten vermarkten müssen, anstatt sich weiterbilden zu können.

Brahmanen sind wissbegierig und ihr Hauptziel ist es, zu lernen. Sie stellen sich grundsätzliche Fragen wie „Wo kommt das Universum her?“ oder „Was ist die Quelle wahren Glücks?“. Wenn ihr Wissen sie arrogant macht,  kann sie dies zu Fall bringen.

Kshatriyas  –  Idealistische Führer

Was muss sich ändern, um diese Gesellschaft  zu verbessern?

Das Wort „Kshatriya“ kommt von “Khatra” was „Macht“, „Regeln“ oder „Regierung“ bedeutet. Kshatriyas waren früher Könige, Adelige und Soldaten. Ihre  Rolle bestand darin, die Gesellschaft vor Eindringlingen und Dieben zu schützen.

Im Bhagavad Gita (18:43) sind “Heldenmut,  inneres Feuer, Ausdauer, Geschick, Furchtlosigkeit  in der Schlacht, Großzügigkeit, und edle Führungskraft die natürlichen Eigenschaften der Kshatriyas”. 

Kshatriyas sind selbstlose Führer. Ob Sie sich für die Schwulenehe oder gegen globale Erwärmung einsetzen oder sich freiwillig für den Rettungsdienst melden, Kshatriyas sind Krieger, die bereit sind, sich für die Gesellschaft aufzuopfern. Sie sehen sich den Menschen, die in ihrer Obhut sind, verpflichtet. Kshatriyas sind leidenschaftlich und gütig. Sie haben Organisationstalent und Weitblick.

Sonne und Mars verkörpern das Kshatriya-Temperament. Ein Sonnen-Kshatriya ist ein edler Führer, der in öffentlichen oder gemeinnützigen  Einrichtungen, in der  Regierung, im Staat oder als Beamter eine Führungsposition hat. Als Vertreter des Volkes sind Sonnen-Kshatriyas in der Lage, unpopuläre Entscheidungen im Interesse des Gemeinwesens zu treffen. Mars steht für Polizisten, Feuerwehrmänner, Soldaten und Rettungskräfte und für all diejenigen, die die Gesellschaft beschützen und verteidigen wollen.

Da sie die Welt verändern möchten, werden viele Kshatriyas Lehrer, nur um festzustellen, dass sie nicht die nötige Geduld für ihre Schüler mitbringen.

Kshatriyas handeln im Einklang mit ihrer Inspiration. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit ist wichtiger als ein angenehmes Leben. Wenn die Welt ihren Idealen nicht folgt, können sie zornig werden. Dieser Zorn ist ihr größter Feind.

Vaishyas  – unabhängige Spezialisten

Was kann ich besser als jeder andere?

Sie wollen das beste Abenteuerbuch für Kinder schreiben, ein  Geschäft aufmachen oder eine neue Technik erfinden?

Menschen mit einem Vaishya-Temperament möchten ein Meister ihres Faches sein und haben das Zeug zum unabhängigen Spezialisten in der freien Wirtschaft. Im Bhagavad Gita (18.44) heißt es “Handel, Landwirtschaft und Viehzucht sind die natürlichen Eigenschaften der Vaishyas.”  Bestrebt darin, einen ureigenen Teil ihrer Persönlichkeit zu entfalten, gehen Vaishyas ihrem Interessensgebiet beharrlich nach. Sie wollen ihre Fähigkeiten so weit wie möglich entwickeln, um Produkte oder Dienstleistungen anzubieten, an denen die Gesellschaft und sie selbst profitieren. Sie sind stolz auf ihre Arbeit, machen diese sorgfältig und sind ihren Kunden ein ehrlicher Ratgeber.

Vaishyas eignen sich als Selbstständige oder Freischaffende.

Die Vaishya Planeten sind Merkur und der Mond. Merkur ist der Manager der Verwirklichung und Eindrücke. Merkur-Vaishyas sind Geschäftsleute, Unternehmer, Banker, Landwirte, Ingenieure aber auch Schauspieler, Produzenten oder Rechtsanwälte.

Der Mond ist der gefühlsbetonte Rhythmus der Musik und der Gesellschaft. Mond-Vaishyas sind Künstler, Journalisten, Musiker, Ärzte, Unterhalter, Lehrer, Heiler, Psychologen, „Wohlfühlspezialisten“, Therapeuten oder Sozialwissenschaftler.

Da sich Vaishyas bestens präsentieren, können sie im wahrsten Sinne des Wortes „blendende“ Politiker sein. Im Gegensatz zu Kshatryias schrecken sie allerdings vor unpopulären Reformen zurück, um ihre Kunden, die Wähler nicht zu vergraulen.

Aufgrund ihres gewinnenden Marketings sind sie als Trainer und Berater finanziell erfolgreicher als die Brahmanen aber nicht unbedingt besser. Vor lauter Leidenschaft  für ihr Interessensgebiet und um daraus einen Verdienst zu machen, können Vaishyas die spirituelle Seite des Lebens vergessen.

Sudras  – Teamplayer

Wie kann ich das Leben mit meiner Familie genießen?

Sudras haben keine idealistischen Vorstellungen vom Leben. Sie nehmen die Dinge so, wie sie sind. Mit Saturn als Planet sind Sudras in der Lage das Beste aus ihrer Situation zu machen und sich auch an ihrem Alltag zu freuen.

Für Sudras ist das Leben ein Überlebenskampf.  Deshalb fühlen sie sich an einem sicheren, gut bezahlten Arbeitsplatz mit ansprechenden Sozialleistungen und ausreichend Urlaubstagen am wohlsten. Was sie beruflich tun, ist für Sudras weniger wichtig, als wie viel sie damit verdienen.

Im Bhagavad Gita 18.44.5 heißt es, “Dienen ist die natürliche Eigenschaft der Sudras”. In den Firmen, in denen sie tätig sind, sind sie verlässliche Mitarbeiter und Teamplayer. Sie scheuen auch körperliche Arbeit nicht. Wenn sie fleißig und sparsam sind, können sie sich ihren Wunsch vom Häuschen im Grünen erfüllen.

Auch wenn sie häufig von ihren Eltern, der Familie oder Gesellschaft dazu angetrieben werden, haben Sudras  oft kein wirkliches Interesse an Führungsaufgaben, nicht die Geduld zur Lehre oder sind nicht bereit, täglich viele Stunden ihrer Freizeit zu opfern, um ein Experte auf einem Gebiet zu werden.  Anstatt einer langjährigen Ausbildung bevorzugen Sudras  kürzere Trainingsprogramme, um sich weiterzubilden und um ihr  Einkommen zu erhöhen. Auch riskieren sie ungern Eigenkapital, um ein Unternehmen aufzubauen. In einer Führungsrolle sind sie mehr auf Profit oder ihren eigenen Vorteil aus als auf die Qualität des Produktes oder den Nutzen für die Allgemeinheit.

Sudras können etwas träge sein und erst handeln, wenn sie ein Problem oder Schmerzen haben. Zu viel Spaß haben zu wollen, kann zu geistigem Stillstand führen.

Exzentriker?

Manche Menschen sind eine Mischung aus verschiedenen Kastentemperamenten, was darauf zurückgehen kann, dass die Eltern unterschiedliche Temperamente haben. Menschen, denen kein Kastentemperament entspricht oder die sich schwer tun, ihren Platz in der Welt zu finden, sind womöglich von Ketu, dem südlichen Mondknoten beeinflusst. Diese Menschen  üben ihre Berufe auf ungewöhnliche Weise aus.

„Belastung“ für die Gesellschaft?

Manche Menschen werden in der Indischen Gesellschaft “Chandalas“ genannt. Chandalas leisten keinen fassbaren Beitrag für die Gesellschaft und können für ihr Umfeld zu einer Bürde werden, weil sie körperlich oder geistig krank sind, aus anderen Gründen nicht arbeiten oder weil sie mit dem Ausland zu tun haben oder im Ausland sind. Laut Parashara werden Menschen deren Kastentemperament von Rahu, dem nördlichen Mondknoten bestimmt wird, am ehesten zu Chandalas.

Wenn Du deiner angeborenen Natur folgst, bist du glücklich

Sein Kastentemperament zu entdecken und anzunehmen ist nicht immer leicht. Wenn Ihre Eltern, Ihr Partner oder die Gesellschaft Sie nicht so nehmen wie Sie sind, ist es kein Wunder, wenn Sie beruflich etwas tun, wofür sie sich nicht interessieren oder eignen. Das Bhagavad Gita empfiehlt  „Besser als die Neigungen eines anderen nachzugehen, nimm die eigene Neigung an, auch wenn sie weniger verdienstvoll ist.“ (Bhagavad Gita: 18.47)

Wie finde ich mein Kastentemperament?  

Das Kastentemperament hängt in der vedischen Astrologie davon ab, welcher Ihrer Karriereplaneten die beste Verbindung zu Ihrem Aszendenten hat.  Darüberhinaus geben Sie sich Ihrer Natur hin, meditieren und fragen sich, zu welchem Temperament Sie sich hingezogen fühlen. Wie erfolgreich Sie Ihr Kastentemperament ausleben, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab.

Literatur

Brihat Parashara Hora Shastra

Deepak Chopra. “Sacred Verses, Healing Sounds.” The Bhagavad Gita

India:  Its Culture and People.  Anne Ferguson Jensen.  New York: Longman Publishing Group, 1991,  pp. 31-36.

Ernst Wilhelm, „Graha Sutras“. 2006.

Ernst Wilhelm. „Jaimini Sutras“. 2009

David Frawley. „Astrologie der Seher“. 2000

Hart de Fouw und Robert Svoboda „Light on Life“. 1996