20. September und 4.Oktober, 2010 San Francisco Chronicle
Jeder Mensch kommt früher oder später in ein seelisches Tief. Wie gehen Sie damit um?
Hoffnungslosigkeit ist nichts Neues. Die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, hat sich allerdings geändert. Die Medizin hat mittlerweile der Religion den Rang abgelaufen. Depression und Angst sind nicht mehr ein Fluch oder Zeichen von Sünde, sondern eine psychische Störung.
Sich hängen lassen
Die meisten Menschen, die sich in einem Tief befinden, warten auf bessere Zeiten und suchen Zerstreuung. Studien zeigen, dass 65 % der Befragten mehr Fernsehen. Sie hängen ihrem Wunschdenken nach und hoffen, dass jemand sie retten oder wenigstens beruhigen wird. Wenn sie die Möglichkeit haben, einen Therapeuten oder Arzt aufzusuchen, schieben sie dies so lange wie möglich auf. Für Außenstehende ist das Selbstzerstörerische an einer solchen Passivität offensichtlich. Der Mensch hat sich bequem zurückgezogen und wartet, bis das Unangenehme im Leben sich von selbst auflöst. Zeit wird zum Heftpflaster. Wunschdenken und Warten verschaffen die Illusion von Trost während wirkliche Heilung nicht stattfindet.
Ob Sie sich hängen lassen, erkennen Sie daran, dass Sie ständig um Bestätigung und Hilfe bitten, jedoch nie genug bekommen. Sie schlagen Ratschläge aus, um die Sie gebeten haben. Sie halten unerträgliche Situationen bis zur Grenze der Belastbarkeit aus, ohne zu handeln. Sie fantasieren davon, gerettet zu werden. Sie wollen gesagt bekommen, was zu tun ist. Sie zeigen Schwäche, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Auf Probleme reagieren sie mit Verwirrung und Trägheit. Sie wachen vor Angst oder Panik auf und sind ein Schwarzseher. Sie stehen nicht für sich ein und sehen sich als Opfer. Sie suchen Ablenkung und verschwenden Zeit, anstatt sich mit einem Thema auseinanderzusetzen.
Sich zusammenreißen
Manche Menschen versuchen ihre Negativität zu kontrollieren, indem sie sie selbstdiszipliniert und gesellschaftlich akzeptabel wegsperren. Wenn Impulse zugeschüttet, versteckt, unterdrückt oder geheim gehalten werden, verschwindet die Negativität allerdings nicht. Schattenenergien, wie Jung diesen Teil der Psyche nannte, sind ein Teil von uns, die sich nicht auf Dauer manipulieren lassen und sich früher oder später auf schmerzhafte Weise ausdrücken. Körperliche Krankheit geht mit unterdrückten Gefühlen einher. Je länger wir Negativität unterdrücken, desto gefühlloser werden wir. Wer seinen Schmerz nicht fühlen kann, kann auch nicht lachen oder lieben…..
Sie neigen dazu, sich zusammenzureißen, wenn Sie die ganze Zeit arbeiten und sich nur wenig Erholung gönnen. Sie füllen den Tag mit Ritualen, bei denen Sie nicht gestört werden wollen und machen Fitnesstraining zu einem Fetisch. Sie haben wenig Geduld für die „Schwächen“ anderer Menschen, sind perfektionistisch und kritisieren Kleinigkeiten an anderen. Sie greifen hart durch, wenn Ihre strengen Moralvorstellungen nicht eingehalten werden. Sie haben Ihre Spontanität aufgegeben, lehnen kindliches ab und kritisieren dies in anderen als unverantwortlich. Sie zeigen selten Gefühle, sind diesen gegenüber skeptisch und haben sich mit einem lieblosen, risikofreien Leben abgefunden.
Sich bekämpfen
Eine weitere Möglichkeit mit einem Tief umzugehen, ist zu versuchen, es mit positiven Gedanken zu bekämpfen. Nach dem Motto “Fühle die Angst und mache es trotzdem” und „Ohne Schmerz keine Weiterentwicklung“, akzeptiert der Stoiker das Leiden als unvermeidbar und glaubt dadurch, zu einem besseren Menschen zu werden. Das Problem mit dem sich überwinden ist, dass alles, was wir besiegen, ein Teil von uns ist. Zärtlichkeit, Verletzlichkeit, Mitgefühl und Selbstakzeptanz stören beim Gewinnen wollen und werden daher geopfert. Diese Gefühle sind aber notwendig, um ein ganzer Mensch zu sein.
Ob Sie dazu neigen Ihre Negativität zu bekämpfen, merken Sie daran, dass für Sie alles ein Konkurrenz- oder Machtkampf ist. Sie sehen Menschen als Gewinner oder Verlierer. Sie sind image- und statusbewusst, haben Angst, sozial abzustürzen und können es nicht ausstehen, wenn jemand sie schlecht aussehen lässt. Sie heben Ihre eigenen Leistungen hervor, kämpfen darum, so gut wie möglich zu sein und schätzen andere gering. Sie möchten die Stärkste, Attraktivste, der Überflieger sein und fordern dies auch von Ihren Kindern. Schwäche ist Ihr Feind. Sie wollen in jeder Situation das Positive sehen und Sie haben keine Toleranz für Pessimismus in sich und anderen. Heimlich glauben Sie, dass nur Verlierertypen Angst haben oder deprimiert sind. Sie neigen zu überzogener Heldenverehrung, und bewundern starke Autoritäten.
Manche verbringen ihr ganzes Leben damit, sich hängen zu lassen, sich zusammenzureißen oder sich zu bekämpfen…
Die spirituelle Lösung besteht darin, über das geteilte Ich hinauszugehen, objektiver zu werden und sich und sein Umfeld als ein Ganzes zu beanspruchen.
Über das geteilte Ich hinausgehen
Wenn wir in einem seelischen Tief sind, ist es normal, flüchten zu wollen. Wir unterdrücken unsere Ängste, suchen Zerstreuung, verleugnen das Problem, geben anderen die Schuld, suchen einen Sündenbock oder werden zornig. Mit diesen Taktiken lassen wir das Schlachtfeld allerdings nur scheinbar hinter uns.
Die Lösung eines Problems ist nicht auf derselben Ebene wie das Problem zu finden. Gehen Sie an einen Ort, der jenseits dieses Konflikts liegt. Alle Weisheitstraditionen der Welt sind sich einig, dass es diesen Ort gibt. Die Herausforderung ist, ihn in sich zu finden. Die Reise ist nicht so mystisch, wie sie klingt.
Die Ursache für ein seelisches Tief ist, dass wir unsere Wahrnehmung aufteilen in ein „Ich“, das wir anderen zeigen wollen und ein Nicht-Ich, für das wir uns schämen, das wir an uns ablehnen oder dem „Du“ zuschreiben.
Wir gehen über das geteilte Ich hinaus, wenn wir meditierend nach innen gehen, das Selbstgespräch zur Ruhe kommen lassen und das Bewusstsein ausweiten. Wir sind verliebt, zeigen Mitgefühl und sind freigiebig. Wir haben Zeit für andere, Gemeinschaftssinn und blicken über den eigenen Tellerrand hinaus. Wir sind inspiriert von spirituellen Texten. Wir glauben und vertrauen auf eine höhere Macht, bitten diese um eine Lösung und können loslassen.
Objektivität
Es gibt viele Möglichkeiten, über das geteilte Ich hinauszugehen. Aus Gewohnheit nutzen wir diese Möglichkeiten oft nicht. Je länger wir wirkungslose Lösungsversuche wiederholen, desto schwieriger wird es, einen anderen Weg zu sehen. Wer sich verweigert und unterdrückt, gräbt sich ein tiefes Loch. Wir reden uns ein, dass alles in Ordnung ist oder dass wir alles unter Kontrolle haben.
Die Ursache, weshalb die meisten Lösungsversuche erfolglos bleiben, ist fehlende Objektivität. Wir lassen unsere Wahrnehmung von Gefühlen, Gewohnheiten und Überzeugungen überschatten. Anstatt uns zu befreien, wird die Innenwelt zu einem Gefängnis. Das einzige Ich, das wir finden, ist das Schatten-Ich, das an Angst, Zorn, Hoffnungslosigkeit, Eifersucht und Missgunst festhält und von Negativität fasziniert ist.
Objektivität ist erforderlich, um Problemen in die Augen zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Schatten, den wir aus dem Blickfeld verbannt haben, bleibt stumm, bis wir ihn stören und er an die Oberfläche kommt. Er ist nicht unser Feind. Wenn dem so wäre, würden die großen Weisen und Seher dazu raten, sich mit aller Macht gegen ihn zu stemmen. Der Grund, weshalb sie dies nicht tun ist, dass der Schatten immer einen Weg findet, sich zu zeigen. Der einzige Ausweg ist, über den Schatten hinauszugehen. Bereits diese Erkenntnis ist eine Form von Objektivität.
Ob wir objektiver werden, sehen wir daran, dass wir Momente der Ruhe und Erholung erleben und über uns lachen können. Wir erkennen, dass sich ein Thema wiederholt und wir schon mal damit zu tun hatten. Wir wissen, dass Negativität kommt und geht und es vor und nachher wieder klare Momente gibt. Wir werden objektiver, wenn wir uns in anderen sehen, uns jemandem anvertrauen, der anderen Menschen in dieser Situation geholfen hat und wenn wir uns eine neue Sichtweise zeigen lassen. Wir geben die Illusion auf, dass unsere Situation einzigartig ist und erkennen, dass andere ähnliche Probleme gelöst haben. Wir nehmen an einer Selbsthilfegruppe teil und stehen jemandem bei. Wir verspüren neue Hoffnung und entdecken unsere innere Macht. Wir sagen uns von Hilflosigkeit und dem Opferdasein los.
sich und das Umfeld als ein Ganzes beanspruchen
Sobald wir unsere Lage objektiver sehen, öffnet sich eine Tür. Wenn wir durch diese Tür hindurch gehen, gehen wir über das geteilte Ich hinaus. Wir verlassen die Ebene des Problems und gehen zur Ebene, auf der eine Lösung möglich ist. Über das geteilte Ich hinaus zu gehen ist natürlich, und es gibt viele Wege dies zu tun. Der Weg in die Freiheit ist eine Frage der Übung. Anstatt immer wieder dasselbe erfolglos zu versuchen, gehen Sie regelmäßig einen neuen Weg, bei dem Sie mehr und mehr über das geteilte Ich hinausgehen, bis Sie Negativität als Ihren Heiler sehen können. Sie haben Kräfte in sich, die Ihnen helfen können. Sie werden Ihr eigener Guru, wenn Sie lernen, diese Kräfte zu wecken. Diese Kräfte sind Teile Ihres wahren Ichs. Heilung braucht Liebe, Zuversicht, Mitgefühl, Toleranz, Freundlichkeit und Akzeptanz uns selbst gegenüber. Chronische Leiden entstehen, wenn wir uns scharf verurteilen. Wenn wir uns das Mitgefühl verbieten, das wir anderen zugestehen und das „Ich“ aufteilen, werden wir uns fremd und fürchten und hassen das Fremde an uns. In Wirklichkeit können wir uns nicht fremd werden, da es nur uns selber gibt, ein ganzer, liebenswerter, vertrauensvoller Mensch. Wenn wir über das geteilte Ich hinausgehen, sehen wir uns als ganz. Wenn wir Negativität hinter uns lassen, sagen wir, “Dies ist mein Heim. Ich habe gefunden, wer ich wirklich bin. Ich beabsichtige, dieser Mensch für immer zu sein.” Anstatt eines geteilten Ichs beanspruchen wir Ganzheit für uns.
Sie bewegen sich in Richtung des wahren Ichs, wenn Sie zu sich selbst nett sind. Sie haben Verständnis für sich und werten sich nicht. Sie lassen alten Groll und Missgunst los. Sie heilen Ihre inneren Wunden. Sie erkennen, dass Vergebung möglich ist und Sie vergeben sich und anderen. Sie schließen Frieden mit Ihrer Schuld und Scham. Sie machen sich keine Vorwürfe mehr und lassen die Vergangenheit los. Sie beenden giftige Beziehungen und finden ein heilsameres Umfeld. Sie machen Pläne für eine bessere Zukunft und halten sich daran. Sie verinnerlichen die Weisheit spiritueller Traditionen und finden den Mut, Ängsten entgegen zu treten und sie loslassen.
Sie lernen einfach zu sein und für sich zu sein. Sie hören auf Ihre innere Stimme und Intuition und schätzen Ihre Einzigartigkeit. Sie entwickeln eine größere Vision für Ihr Leben und finden eine inspirierende Bestimmung. Sie lassen sich nicht mehr über Äußerlichkeiten wie Status, Geld und Besitz einordnen und lassen diese immer mehr los. Die Wirklichkeit ist reicher als die Illusion. Sie bietet jeden Tag offene Türen, das geteilte Ich hinter sich zu lassen, objektiver zu werden und sich aus einer festgefahrenen Situation herauszulösen. Das ist der freie Spirit am Werk und kein Werk ist erfüllender.
© Copyright 2010 Deepak Chopra . Auszüge von Artikeln vom 20. September und 4. Oktober 2010 im San Francisco Chronicle angepasst aus dem Amerikanischen von Joachim Schneider.