Jetzt zur Wirklichkeit aufwachen

Deepak Chopra, 9. Oktober 2017

Viele Menschen wollen ihr Leben verändern. Sie wollen das Gute in Ihrem Leben noch verbessern und das Schlechte loswerden. Was gut oder schlecht ist, ist für jeden Menschen jedoch anders und ein Spiegelbild der menschlichen Vielfalt.

Jeder, der sich sein Leben anschaut, findet etwas, was er ändern möchte. Sein Leben zu ändern ist jedoch gar nicht so einfach und kann ein steiniger Weg sein. Manche kommen deshalb zu dem Schluss, dass der Mensch sich nie ändert und hören ganz damit auf, sich oder andere ändern zu wollen.

Umso erstaunlicher ist es, wie viele Menschen noch nach vollkommener Verwandlung streben. Jede Religion unterstützt diese Idee durch Buße, Erlösung, die Hoffnung auf einen Himmel, Erleuchtung oder Nirvana. Vollkommene Verwandlung ist nicht nur eine schrittweise Veränderung, welche schon schwer genug ist. Ist es da nicht Narretei, auf einen vollkommenen Wandel zu hoffen? Ja und Nein. Schlechte Gewohnheiten aufgeben, Beziehungen verbessern, Angst und Unsicherheiten loswerden und sich finanziell absichern, sind oft ein vergeblicher Kampf, der mit zunehmender Dauer noch anstrengender wird.

Mit dem Ego, einem ständig unzufriedenen, unsicheren kleinen und isolierten „ich“ und einem ruhelosen Geist kann man jedoch keinen wirklichen, persönlichen Wandel vollziehen.

Wandel entsteht im kindlichen Erleben des einfachen Seins. Jeder Mensch hat solche Momente, in denen das Leben erfüllend und der Geist still ist und das Ego nicht am Käfig rüttelt. Einfach sein kann einen Menschen das ganze Leben über begleiten. Erwachsene müssen es jedoch zumeist wieder neu finden.

Einfach sein ist durch den Ballast aus Gedanken, Ideen, Annahmen, Überzeugungen, eingefahrenen Gewohnheiten und den Herausforderungen des Lebens verloren gegangen. Mit diesem Ballast fühlen wir uns nur dann wohl, wenn wir von einer Gedankenwolke, den Geistern der Vergangenheit und den Fantasien der Zukunft umgeben sind.

Angesichts dieses gedanklichen Ballasts wundert es nicht, dass nur wenige Menschen alles aufgeben, um sich zu befreien. Entsagung und Aussteigen ist für die meisten Menschen ohnehin nicht machbar. Es gibt Lehrer, die sagen, dass Befreiung hier und jetzt möglich ist, ganz ohne Kampf, wenn man seine Wahrnehmung verändert.

Unser Leben ist wie eine Filmleinwand, auf der die Innen- und Außenwelt abgebildet ist. Die Bilder ändern sich, aber die Leinwand bleibt die selbe.

Sowohl die “Leinwand” als auch die “Bilder” sind das  sich ständig verändernde Bewusstsein. Das ist schwer zu verstehen, solange wir an den folgenden unwahren Annahmen festhalten:

  • Die fassbare Welt “da draußen” ist von der Welt “hier drinnen“ getrennt.
  • Das dreidimensionale Bild, das uns unser Gehirn liefert, stellt eine tatsächlich getrennt existierende Wirklichkeit dar.
  • “Ich” ist ein isolierter und abgetrennter Bewusstseinsort.

Diese Annahmen legen wir nicht dadurch ab, dass wir durch Argumente vom Gegenteil überzeugt werden, sondern indem wir ein Erlebnis außerhalb dieser Annahmen haben.

Die Befreiung im hier und jetzt beginnt mit dem, was wir erleben und wissen, und nicht mit den Gewohnheiten unseres Geistes oder mit eingefahrenen Überzeugungen.

Niemand weiß, wo Gedanken herkommen, welche Gedanken wir als Nächstes haben oder was die Zukunft bringen wird. Eine vorgefertigte Vorstellung darüber ist daher sinnlos und Illusorisch. Mit dem Geist zu kämpfen bringt nichts.  Routine schafft zwar Regelmäßigkeit, das Leben wird ohne sie jedoch völlig unvorhersehbar.

Wenn wir den Geist, die Welt und das Leben nicht mehr verstehen müssen, bleibt nur ein offenes Feld an Möglichkeiten. Kinder bewegen sich ganz natürlich darin. Eine Möglichkeit ist weder ein Gedanke, Bild, Gefühl noch eine Empfindung. Im einfachen Sein sind wir am Authentischsten.

Auch im Tiefschlaf sind wir noch da. Tiefschlaf ist deshalb so angenehm, weil wir , eingetaucht im Feld des Bewusstseins, zur Wirklichkeit zurückkehren.

Es ist nicht notwendig, sich irgendetwas bewusst zu sein.  Offen, bewusst und gegenwärtig sein ist ein alltägliches Erlebnis, dem wir keinen Wert beimessen, wenn wir uns mit unseren Gedanken und Problemen beschäftigen.

Einfach sein ist erfüllend. Es gibt nichts zu suchen oder zu verbessern. Veränderungen sind weder bedrohlich noch verlockend. Wandel ist Bewusstsein, das sich immer wieder verändert.

Einfach sein im hier und jetzt erfordert Schritt für Schritt zu gehen und jeden Schritt zu verinnerlichen, bevor man den nächsten macht.

Wer glaubt, dass da draußen“ die Grundlage der Wirklichkeit ist, kann nicht akzeptieren, dass alles aus einem sich verändernden Bewusstsein besteht.

Wer glaubt, dass der Körper und das Gehirn einzigartig sind und unabhängig von anderen Dingen existieren, kann nicht akzeptieren, dass wir alle Bewusstsein sind und der fassbare Körper nicht mehr als ein  Erlebnis wie ein Berg, Baum oder eine Wolke.

Wer glaubt, dass das Bewusstsein vom Gehirngewebe entstanden ist, kann nicht akzeptieren, dass das Bewusstsein unvorstellbar ist.

Das Bewusstsein ist unvorstellbar, weil es alles ist und alles keine Grenzen oder Umrisse kennt und auch der Geist, der das Bewusstsein verstehen will, daraus besteht.

Der individuelle Geist ist genauso unabhängig vom Bewusstsein wie die Welle vom Ozean.

Einfach im hier und jetzt  sein ist der Schlüssel zu vollkommenem Wandel. Es gibt keinen Kampf, um zu versuchen sich zu verändern. Der Mensch identifiziert sich nicht mehr mit der Ego-Persönlichkeit, die in der Illusion der Trennung existiert, sondern mit einfachem Sein.

Die Ego-Persönlichkeit ist das Ergebnis von Jahrhunderten von Kampf und Sinnlosigkeit. Einfach sein ist eine Rückkehr zur Grundlage der Wirklichkeit. Was als nächstes passiert ist nur dem grenzenlosen Feld des Bewusstseins bekannt.

Aus dem Amerikanischen Original ins Deutsche übertragen von Joachim Schneider